Der Ursprung von Thuḷḷal
Das leuchtende Blau des Himmels. Das helle Grün der üppigen Reisfelder. Das Rot der Hügel. Das tiefe Blau des Meeres und das dunkle Grün der Wälder. Dazu die Glut und Funken der zuckenden Blitze im Monsungewitter. Kerala heißt die Heimat einer solchen Farbenvielfalt. Hier entstand im 18.Jahrhundert die Geschichten-erzählform Thuḷḷal. Episoden der indischen Epen und der klassischen Literatur (allesamt in Sanskrit verfasst) wurden vom Poeten, Tempeltrommler und Tänzer Kunchan Nambiar in Malayāḷam, der Sprache der einfachen Menschen nacherzählt. Mit seinem Sprachgenie schuf er lebendige, mit Philosophie, Humor und Sozialkritik angereicherte Texte. Durch die harmonische Verbindung von Gesang, Rhythmus, Mimik, Handgestensprache, Tanz und Theater wurde Thuḷḷal schnell zu einem populären und festen Bestandteil der traditionellen Tempelfeste (was sich bis heute nicht geändert hat).
Bei Hochzeiten der Götter glaubte sich das Publikum am nächstgelegenen Königshof. Jagdszenen im Wald beschreiben detailgetreu, was betrunkene Soldaten in ihrem Übereifer so alles vom Baum schießen (z.B. auffällig behaarte Mitstreiter, die sich dort vor umherspringenden Tigern sicher wähnten). Brahmanen (Mitglieder der Priesterkasten und die damaligen Feudalherren), die stets großzügige Festessen genossen, konnten sich oft nach ausgiebigem Verzehr von Speisen nicht mehr von ihrem Platz erheben... Schon diese Beispiele lassen erahnen, wie schnell Kunchan Nambiar mit seinen Thuḷḷal Geschichten Popularität erlangte.
Thuḷḷal (Tanz mit festen Schritten) wird in den Stilrichtungen Ōṭṭan-, Śῑtankan- und Parayan Thuḷḷal aufgeführt. Die beiden ersten ähneln sich sehr in Kostüm und Vortragsweise und sind beim Publikum äußerst beliebt. Eine Kaste der Unberührbaren gab Parayan Thuḷḷal seinen Namen. In diesen Texten ist sehr viel Philosophie und Sozialkritik enthalten. Bis heute ist es schwierig geblieben, für diese Art von Thematik ausreichend Veranstalter, Künstler und Publikum zu finden.
Thuḷḷal ist eine Soloperformance und wird sowohl von Männern wie auch von Frauen aufgeführt (letztere sind nicht oft anzutreffen). Der Tänzer bzw. die Tänzerin trägt eine Textzeile vor, die anschließend von einem Hintergrundsänger wiederholt wird. Es folgt die nächste Zeile mit der erneuten Wiederholung. Während der Gesangspausen hat der Tänzer reichlich Gelegenheit, durch Körpersprache und Mimik aufs Publikum einzugehen. Ein Trommler begleitet das Ganze (auf der Mṛdangam) und orientiert sich dabei am Rhythmus, den der Hintergrundsänger durch das Schlagen der Zimbeln vorgibt.
Die Aufführungslänge einer Thuḷḷal Geschichte liegt bei durchschnittlich 60 bis 90 Minuten (ausgespielt haben die meisten Texte eine Dauer von 3 bis 4 Stunden). Das Repertoire einer KünstlerIn umfasst ca. 5 bis 10 Geschichten, und es bleibt fast immer auf die populären Stilrichtungen Ōṭṭan- und Śῑtankan Thuḷḷal beschränkt. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Keralesische Kulturvereine in indischen Großstädten und dem benachbarten Ausland) wird Thuḷḷal nur innerhalb der Landesgrenzen Keralas aufgeführt. Ursachen hierfür sind zum einen die Sprache der Texte (ohne ausreichende Malayāḷam Kenntnisse ist ein Nachvoll-ziehen der Geschichte nicht möglich), zum anderen besitzt Thuḷḷal keinen rein klassischen Charakter, erscheint somit Nicht-Keralesen oft nicht attraktiv genug.
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